Wie die deutsche Wohnungswirtschaft beim Wiederaufbau der Ukraine helfen kann
Der Krieg in der Ukraine hat zu immensen Zerstörungen auch des Wohnraums geführt. Der ukrainische Wohnraumbestand fällt zudem aus historischen Gründen insbesondere in energetischer Hinsicht weit hinter westlichen Standards zurück.
Interview zum Wohnungsbau in der Ukraine: „Der deutsche Mietmarkt ist ein Vorbild“
Wie die Situation in der Ukraine ist, schildert die ukrainische Stadtforscherin Yuliia Popova im Interview. Popova floh nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine nach Deutschland. Über ein Stipendium der Volkswagen Stiftung konnte sie an der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau unter Prof. Dr. Detlef Kurth zum deutschen Modell kommunaler Wohnungsunternehmen und dessen Übertragbarkeit auf die Ukraine forschen. Bereits 2020 schloss sie an der Universität Stuttgart den Master-Studiengang „Integrated Urbanism and Sustainable Design“ ab.
In der Ukraine arbeitete Popova von 2014 bis 2017 im Kiewer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in einem Projekt zur Demokratie-Förderung und als Forschungskoordinatorin für NGOs.
Frau Popova, wie sehen die Eigentumsverhältnisse in Bezug auf Wohnungen in der Ukraine aus?
Yuliia Popova: Die Ukraine ist ein Land der Haus- und Wohnungseigentümer. Nirgends in Europa ist die Quote an Wohneigentum so hoch. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fand ab 1992 eine Massenprivatisierung statt. Die Regierung hat privates Wohneigentum massiv unterstützt. 2013 haben 94 Prozent der Bevölkerung in privaten Wohnungen gelebt. Zumindest offiziell. Im Oktober 2022 waren es laut einer nicht-repräsentativen Studie schätzungsweise 76 Prozent, aber diese Zahlen sind wenig aussagekräftig.
Warum? Gibt es keinen Mietmarkt?
Popova: Der Mietmarkt ist weder geschützt noch reguliert noch steuerlich erfasst. Viele Wohnungen werden unter der Hand vermietet, und es gibt keine Zahlen darüber, wie viele Menschen Miete bezahlen und wie hoch die Mieten sind.
Wer kümmert sich um die Immobilien? Die Eigentümer selbst?
Popova: Ein Teil der Häuser wird durch Eigentümergemeinschaften verwaltet. Davon gibt es 27.010 in der Ukraine ohne die vorübergehend besetzten Landesteile. Dem gegenüber stehen aber 180.000 Mehrfamilienhäuser insgesamt. Der größte Teil der Mehrfamilienhäuser wird weiter von kommunalen Verwaltungen oder von den Eigentümergemeinschaften selbst verwaltet. Es gibt kaum professionelle Verwaltungsunternehmen.
Wie ist der Zustand der Bausubstanz?
Popova: Die Verwaltung der Häuser ist sehr schlecht. Es gibt so gut wie keine Renovierungen, und die Energieeffizienz ist sehr niedrig. Immerhin sind mehr als 80 Prozent der Häuser in der Ukraine vor 1990 gebaut worden.
Welchen Einfluss haben Zerstörungen durch den Krieg?
Popova: Im Jahr 2022 haben wir geschätzt 135.000 bis 817.000 beschädigte oder zerstörte Gebäude. Allein in Charkiw sind 5000 Häuser beschädigt, 500 davon irreparabel. Durch diese Zerstörungen und auch durch Flucht aus den vorübergehend besetzten Gebieten leben rund 5,4 Millionen Binnenflüchtlinge in der Ukraine, die dringend Wohnraum benötigen.
Wie reagiert der Staat darauf?
Popova: Es wurde ein Gesetz über Entschädigungen für zerstörtes Eigentum verabschiedet. Aber die Durchführung ist noch nicht definiert. Auch der zeitliche Rahmen steht noch nicht fest. 53 Prozent der Binnenflüchtlinge haben nun Wohnungen gemietet, bekommen aber keine Unterstützung bei der Miete. Gemäß aktueller Forschung ist das jedoch eines der Dinge, die Binnenflüchtlinge am dringendsten benötigen.
Es müssen also Strukturen für einen Mietmarkt geschaffen werden. Wie kann die deutsche Wohnungswirtschaft da helfen?
Popova: Der deutsche Mietmarkt ist ein Vorbild, weil er sehr gut strukturiert ist. Für die Ukraine sind vor allem kommunale Wohnungsbaugesellschaften und Wohnungsgenossenschaften interessant. Hier benötigen wir einen Erfahrungsaustausch mit Kommunen und Wohnungsgesellschaften. Dann müssen wir ukrainische Experten ausbilden, die an die Ukraine angepasste Strukturen entwickeln und aufbauen können. Und ganz konkret kann die deutsche Wohnungswirtschaft mit ihrem Know-how beim Bau von Wohnungen in der Ukraine helfen.
Was benötigt die Ukraine zum Wiederaufbau?
Popova: Vor allem Geld. Schätzungen der Weltbank zufolge wird der Wiederaufbau 411 Milliarden US Dollar kosten. Das ist das 2,6-fache des Bruttoinlandsprodukts. 17 Prozent davon entfallen laut vorsichtiger, grober Schätzungen auf den Wohnungsbau. Neben dem Geld benötigen wir Expertise bei der Schaffung von Strukturen; wie etwa Strukturen für eine funktionierende Hausverwaltung und für die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum.
Wie hoch ist die Bereitschaft in der Bevölkerung, Wohneigentum in Wohnungsgenossenschaften zu überführen?
Popova: Niedrig. Die Menschen wissen nichts über Strukturen, wie es sie in Deutschland und anderen europäischen Staaten gibt. Die Vorstellung, sein Haus in eine Genossenschaft zu überführen, schreckt viele Menschen zunächst einmal ab, weil es an die Sowjetunion erinnert. Daran wird man arbeiten können, wenn man die Menschen informiert.
Kommunale und genossenschaftliche Lösungen gefordert
In den Wiederaufbaudokumenten der ukrainischen Regierung werden alternative Angebote wie kommunale und genossenschaftliche Lösungen gefordert, die bezahlbare Mietwohnungen in größerem Umfang anbieten können. Da es diese noch nicht gibt, müssen sie erst geschaffen werden. Hier kann die deutsche und europäische Aufbauhilfe ansetzen.
Insgesamt wurden in Deutschland 1,06 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen, von denen im Dezember 2022 rund 600.000 arbeitslos oder arbeitssuchend gemeldet waren.
Die deutsche Wohnungswirtschaft kann konkrete Weiterbildungsprogramme und -partnerschaften entwickeln, bei denen die Teilnehmenden in Wohnungsunternehmen und -genossenschaften arbeiten und parallel eine entsprechende Weiterbildung erhalten, zum Beispiel im gemeinnützigen Europäischen Bildungszentrum der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft (EBZ) in Bochum.
Bei der Konzeption eines solchen Programms sollte berücksichtigt werden, dass sich ein Teil der ausgebildeten Ukrainerinnen und Ukrainer wahrscheinlich gegen eine Rückkehr entscheiden wird – Studien aus der Migrationsforschung belegen das. In diesem Fall würde die deutsche Wohnungswirtschaft von der Ausbildung der zusätzlichen Fachkräfte profitieren.
Städtepartnerschaften als Vehikel zur Vernetzung
Ein Vehikel zur Vernetzung der deutschen Wohnungswirtschaft mit entstehenden ukrainischen Unternehmen können die aktuell 152 deutsch-ukrainischen Kommunalbeziehungen, also etwa Städtepartnerschaften, sein. Gerade im Rahmen von Städte- und Kommunalpartnerschaften kann das Thema der Wohnungs- und Quartiersentwicklung eine bedeutende Rolle spielen, da in nahezu allen (deutschen) Städten und Gemeinden kommunale Wohnungsunternehmen und Genossenschaften zu finden sind.
Maßgeschneidertes Programm
Ziel ist es, die Teilnehmenden zu befähigen,
- eine Zusatzqualifikation „Ökonom/in Wohnungswirtschaft“ zu erwerben und fit zu sein für eine Beschäftigung in der Wohnungswirtschaft.
- eine Tätigkeit in deutschen Wohnungsunternehmen auszuüben, sodass sie prädestiniert sind, die Begleitung von Unternehmens- und Städtepartnerschaften im Themenfeld Wohnen zu übernehmen.
- die Gründung und das Management von neuen Akteuren des Wohnraums in der Ukraine durchzuführen bzw. zu begleiten.
Das Programm der EBZ Business School
- Dauer: 12 Monate
- Umfang: 10-14 Module à 5-6 Unterrichtstage
- Studienform: 70% online, 30% Präsenz in Bochum (NRW)
- Sprachanforderung: Deutsch B2
- Voraussetzungen: Hochschulabschluss jeder Fachrichtung
- Vorteil: flexibel gestaltbare Inhalte, Zeitmodelle und Startzeitpunkte, Abschlussprüfung anstelle einzelner Modulprüfungen möglich
- Nachteil: höhere Kosten als vergleichbare Modulanzahl im regulären Studienmodell, weniger Inhalte
- Kapazität: je Gruppe 20-40 Teilnehmende
- Abschluss: EBZ-Zertifikat „Ökonom/in Wohnungswirtschaft"
Umfrage: Haben Sie Interesse, an diesem Programm mitzuwirken?
Haben Sie Interesse, sich mit Ihrem Unternehmen oder Ihrer Genossenschaft am Programm zu beteiligen? Haben Sie vielleicht bereits Erfahrungen mit ukrainischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gesammelt? Bitte nehmen Sie an unserer Umfrage teil und teilen uns Ihre Interessen und Erfahrungen mit!
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Chance für Ukrainerin Nadiia Dudkina: Vom Ausflugsschiff an die EBZ Business School: Die Ukrainerin Nadiia Dudkina flüchtete 2022 vor dem Krieg nach Deutschland. Sie arbeitete zunächst als Kellnerin auf einem Ausflugsschiff, wurde aber dort "entdeckt" und fand den Weg in die Wohnungswirtschaft. Sie beginnt nun, dank des Engagements ihres Arbeitgebers und eines Stipendiums, ein Studium an der EBZ Business School.